Chancen der Barrierefreiheit durch Digitalisierung
 

 

Lina Maria Pietras – Eine Frau, die beeindruckt, inspiriert und den Blick auf Inklusion revolutioniert. Als preisgekrönte Business-Coach, Inclusion Strategist, Autorin und Keynote-Speakerin ist sie eine der führenden Stimmen für Transformation, Leadership und Inklusion. Mit ihrem Buch HERZAUGE hat sie nicht nur persönliche Einblicke gegeben, sondern auch neue Impulse für Unternehmen und Einzelpersonen gesetzt, die Veränderung aktiv gestalten möchten.

Trotz einer genetischen Netzhauterkrankung, die ihr Sehvermögen auf weniger als 4% reduziert hat, zeigt Lina, dass Grenzen oft nur im Kopf existieren. Mit der bewährten Birkman Methode und ihrem eigenen Performance-Framework blindspot.coaching® befähigt sie Führungskräfte, ihre blinden Flecken zu finden, um damit ihr eigenes und das Potenzial Ihrer Workforce zu maximieren. Ihre Überzeugung ist klar: Inklusion ist ein Menschenrecht – und sie lebt vor, wie man dieses Recht in die Praxis umsetzt.

In unserem Interview sprechen wir mit ihr darüber, wie die Digitalisierung Unternehmen dabei unterstützen kann, Menschen mit Behinderungen zu integrieren, Barrieren abzubauen und gleichzeitig Potenziale zu entdecken, die man so vielleicht nie vermutet hätte.

 

 

Das Interview 

 

Lina, die Zusammenarbeit mit Dir im letzten Jahr für unsere Diversity Veranstaltung im Dialoghaus Hamburg war von Anfang an unkompliziert und bereichernd. Was glaubst Du, sind die wichtigsten Voraussetzungen, damit Zusammenarbeit so reibungslos funktionieren kann?

Ich denke, die wichtigsten Voraussetzungen sind eine offene und ehrliche Kommunikation sowie gegenseitiges Vertrauen und Respekt. Wenn alle Beteiligten bereit sind, zuzuhören und voneinander zu lernen, können wir gemeinsam Großes erreichen. Digitale Tools spielen hier eine wichtige Rolle, um Barrieren abzubauen und den Austausch zu erleichtern, unabhängig von körperlichen Einschränkungen. 

 

Du hast gezeigt, wie einfach und effizient eine gute E-Mail-Kommunikation auch ohne Barrieren sein kann. Welche Tipps würdest Du Unternehmen geben, um solche Prozesse noch inklusiver zu gestalten?

Unternehmen sollten auf eine klare, einfache Sprache achten und E-Mails gut strukturieren. Vermeiden Sie unnötige Fachbegriffe und lange Sätze. Digitale Hilfsmittel wie Vorlese-Software, die viele E-Mail-Programme anbieten, können hier sehr nützlich sein, um den Zugang zu erleichtern. Auch das Anbieten von E-Mails in verschiedenen Formaten, zum Beispiel als reine Textversion, kann helfen. Wichtig ist auch, dass die Anhänge barrierefrei sind. Und auch die Frage zu stellen, ob die E-Mail selbst eigentlich noch ein zeitgemäßes Tool ist, vor allen Dingen für interne Arbeit. Es gibt mit Projektmanagement Tools und allen Slacks dieser Welt weitaus effizientere und barrierefreiere Tools.

 

Welche Rolle spielt Deiner Meinung nach die Digitalisierung bei der Förderung von Vielfalt und Inklusion in Unternehmen?

Die Digitalisierung spielt eine essenzielle Rolle bei der Förderung von Vielfalt und Inklusion. Sie ermöglicht flexible Arbeitsmodelle wie Remote Work, die besonders für Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen von Vorteil sein können. Zudem erleichtert sie den Zugang zu Informationen und Weiterbildungsmöglichkeiten. Digitale Plattformen können auch dazu genutzt werden, um den Austausch zwischen verschiedenen Gruppen zu fördern. Es ist entscheidend, dass diese digitalen Räume barrierefrei gestaltet sind, damit wirklich alle teilhaben können.

 

Wie können digitale Technologien dazu beitragen, Barrieren für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz abzubauen?

Vor allem Apps können Menschen mit Behinderungen helfen, ihre Arbeit effektiver zu erledigen und sich besser einzubringen. Die besten sind ohnehin klar strukturiert und viele davon sind barrierefrei “by design”. Beispielsweise können Screenreader blinden oder sehbehinderten Menschen den Zugang zu digitalen Inhalten ermöglichen, während Spracherkennungssoftware die Kommunikation erleichtern kann. Auch Tools zur Untertitelung von Videos oder zur Bereitstellung von Gebärdensprache sind sehr wertvoll. Die seit zwei Jahren ins Zentrum der Gesellschaft gerückten KI-Tools machen hier gerade Quantensprünge, auch bei der Barrierefreiheit.

 

Welche Erfahrungen hast Du als blinde Person mit digitalen Tools gemacht, die Deine Arbeit erleichtern?

Ich nutze Screenreader und Spracherkennungssoftware, die meine Arbeit erheblich erleichtern und mir ermöglichen, selbstständig und effizient zu arbeiten. Diese Tools sind für mich unverzichtbar, um E-Mails zu lesen, Dokumente zu bearbeiten und im Internet zu recherchieren. Sie haben meine Arbeitsweise revolutioniert und mir neue Möglichkeiten eröffnet. Sprachassistenten wie Siri haben meine Arbeit unglaublich vereinfacht und ChatGPT sowie Gemini von Google machen viel klassische Assistenzarbeit im Officemanagement schneller, fehlerfreier und deutlich detaillierter. Ob blind oder nicht, diese Tools sind das echte “New Work”. New New Work, wenn man so will.

 

Wie können Unternehmen digitale Lösungen nutzen, um ihre Prozesse inklusiver zu gestalten?

Unternehmen können digitale Lösungen nutzen, um ihre Prozesse zugänglicher zu machen, beispielsweise durch barrierefreie Websites und Software. Es ist wichtig, dass alle digitalen Angebote so gestaltet sind, dass sie von allen Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten, genutzt werden können. Dies bedeutet beispielsweise, auf eine gute Lesbarkeit, eine einfache Navigation und die Kompatibilität mit Hilfsmitteln zu achten. Es gibt hierzu ja zahlreiche Vorlagen, Vorgaben vom Bund, wie die BITV und eine Menge Grundgerüste (meine Developer sagen hier Frameworks), die es heutzutage nicht mehr schwierig machen. Feedback einholen ist unglaublich einfach und voll-anonymisierte Nutzungsdaten können dabei helfen Prozesse zu verbessern ohne dauernd Feedbackschleifen und Evaluationen durchführen zu müssen.

 

Welche Maßnahmen sollten Unternehmen ergreifen, um ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten, insbesondere im Hinblick auf das kommende Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG)?

Unternehmen sollten ihre digitalen Angebote regelmäßig auf Barrierefreiheit prüfen und sicherstellen, dass sie den aktuellen Standards entsprechen. Es ist ratsam, Experten für Barrierefreiheit hinzuzuziehen und Schulungen für Mitarbeiter anzubieten. Auch die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in den Entwicklungsprozess ist entscheidend, um sicherzustellen, dass die Angebote ihren Bedürfnissen entsprechen. Und dann natürlich die Implementierung. Die Leute müssen auch darin geschult werden, wie und warum diese Maßnahmen wichtig sind. Inklusion ist schließlich keine reine Sozialaufgabe, sondern erlaubt Unternehmen, die besonderen Fähigkeiten “behinderter” Menschen zu nutzen. Ja, auch und vor allem wirtschaftlich, denn am Ende sprechen wir von gewinnorientierten Unternehmen. Im besten Fall eben mit sich selbst auferlegter sozialer Verantwortung.

 

Wie kann die Digitalisierung dazu beitragen, Ängste von Unternehmen abzubauen, wenn es darum geht, Menschen mit Behinderungen einzustellen?

Die Digitalisierung kann zeigen, dass Menschen mit Behinderungen sehr wohl in der Lage sind, produktiv zu arbeiten, und dass es viele digitale Hilfsmittel gibt, um sie zu unterstützen. Durch die Präsentation von Erfolgsgeschichten und die Bereitstellung von Informationen können Unternehmen ihre Vorurteile abbauen und erkennen, dass Vielfalt eine Bereicherung für jedes Team ist. 

 

Welche Herausforderungen siehst Du bei der Umsetzung digitaler Barrierefreiheit in Unternehmen, und wie können diese überwunden werden?

Eine Herausforderung ist oft das fehlende Bewusstsein für die Notwendigkeit von Barrierefreiheit. Viele Unternehmen sind sich nicht bewusst, wie wichtig es ist, ihre digitalen Angebote für alle zugänglich zu machen. Schulungen und Sensibilisierung können hier helfen. Auch die Kosten für die Implementierung barrierefreier Lösungen können eine Herausforderung darstellen, aber langfristig gesehen lohnt sich die Investition in Inklusion.

 

Wie können Unternehmen sicherstellen, dass ihre digitalen Kommunikationsmittel, wie Newsletter und Social Media, für alle zugänglich sind?

Unternehmen sollten sicherstellen, dass ihre digitalen Kommunikationsmittel barrierefrei gestaltet sind, beispielsweise durch die Verwendung von Alt-Texten für Bilder und Untertiteln für Videos. Auch eine gute Strukturierung der Inhalte und eine klare Sprache sind wichtig. Auf Social Media-Plattformen sollten Hashtags und Emojis mit Bedacht eingesetzt werden, da diese von Screenreadern anders interpretiert werden können. Es ist auch hilfreich, regelmäßig Feedback von Nutzern mit Behinderungen einzuholen. Und auch nicht zu vergessen, dass nicht alle Behinderungen sichtbar sind. Zu raten, was jemand braucht, ohne ihn zu fragen ist nicht nur wenig zielführend, sondern führt am Ende zu Verdruss und einer noch größeren Kluft.

 

 

interview

Lina Marie Pietras