„Einfach mal lassen, einfach mal machen"

Wie schaffen es Teams, im digitalen Wandel handlungsfähig zu bleiben, ohne sich in Prozessen zu verlieren? Autor und Impulsgeber Martin Gaedt geht dieser Frage in seinem neuen Buch „Arbeit einfach lassen" auf den Grund – mit zahlreichen Beispielen aus der Praxis. Eines davon stammt von Hamburg@work | DigitalCluster.Hamburg: Unsere Kollegin Katrin Engelbrecht gibt darin einen ehrlichen Einblick, wie Vereinfachung im Alltag tatsächlich funktioniert mit klaren Strukturen, echter Verantwortung und einem starken Wir-Gefühl (Seiten: 140 und 141). Im Gespräch mit Martin Gaedt haben wir über Mut zum Weglassen, Vertrauen, Kommunikation und die Zukunft der Zusammenarbeit gesprochen.

 

Martin, was bedeutet für dich persönlich „Arbeit einfach lassen" und warum ist das gerade jetzt so wichtig?

Menschen erleben ein wachsendes Zu-viel-von-allem. Meetings, Berichte, Tabellen, Aufträge, Mikromanagement. Das ist häufig sinnlose Bullshit-Arbeit und stiftet keinen Mehrwert. Im Buch geht es um Entlastung und die Energie für wertvolle Arbeit. Menschen wollen ihren Beitrag leisten, was zwei Rekorde in Deutschland deutlich zeigen: 46 Millionen Erwerbstätige arbeiten zusammen 55 Milliarden Stunden. Beides ist mehr denn je. Doch viele Menschen sind gefangen in Aufgabenbergen und Prozesslawinen. Wird Arbeit entmüllt, erleben Menschen Freiräume. Das motiviert. Aufgeräumte Höchstleistung tut gut. Sind Prozesse entschlackt, atmen wir auf und steigern unsere Leistung und Innovationskraft.

 

In deinem Buch beschreibst du, dass wir lernen müssen, Dinge nicht zu tun. Was passiert, wenn man bewusst etwas weglässt, und welche Erfahrung hat dich davon überzeugt?

Laut Studien verbringen wir bis zu 41 Prozent unserer Arbeitszeit mit sinnlosen Tätigkeiten. Das Weglassen ist von Branche zu Branche unterschiedlich. Eine Steuerkanzlei sammelt alle eingehenden E-Mails und stellt sie nur zweimal am Tag intern zu. Außerdem klingeln von 10 bis 12 und von 14 bis 15 Uhr keine Telefone. In 34 Stunden pro Woche wird fokussiert und stressfrei mehr geschafft als früher in 40 Stunden. Die Firma Shopify hängt an Meetings ein Preisschild. Zu jeder Einladung wird die Summe der Lohn-, Raum-, Energie- und Cateringkosten angezeigt. Alle haben sich über die Höhe der Kosten erschrocken. Nur wertvolle Meetings finden noch statt. 322.000 Stunden pro Jahr werden gespart und produktiver eingesetzt. Im Bautrocknungs-Handwerk hat Rocco Funke alle Werkstattwagen gleich eingerichtet. Kein Suchen mehr nach Werkzeug. Nach vielen Experimenten schaffen sie die Trocknung heute mit der Hälfte der Bohrungen wie es der Standard vorgibt. Immer mehr Bäckereien fangen erst um 6 Uhr oder 7 Uhr mit der Arbeit an. Sie haben weder Fachkräfte- noch Azubimangel und sind hochprofitabel.

 

Du sagst: „Alles, was keinen Mehrwert bringt, fliegt raus." Wie gelingt es dir, zwischen wichtig und überflüssig zu unterscheiden?

Beim Schreiben meiner sechs Bücher streiche ich am Ende immer ein Drittel weg. Ich stelle mir die Frage nach der Wirkung. Dann fliegt ein Teil der Geschichten raus und ab und zu ein ganzes Kapitel. An jede Tätigkeit kann ein Preisschild gehängt werden wie bei Shopifys Meetings. Ist es den Einsatz von Zeit = Geld wert? Welchen Wert trägt die Tätigkeit zum Zweck meines Unternehmens bei? Mache ich etwas aus Gewohnheit? Oder liefert die Tätigkeit den Kunden einen Wert? Ein Hotel hat einen Kunden spontan von Leipzig nach Frankfurt/Main in einer Limousine bringen lassen, als er seinen Flug verpasst hatte. Der Preis war eine vierstellige Summe. Seit diesem Extraservice tagt das Unternehmen aus den USA immer in dem Hotel in Leipzig. Ein anderes Hotel hat die Arbeitszeit von 40 auf 36 Stunden reduziert bei vollem Gehalt. Die Bewertungen von Kunden wurden viel besser, die Mitarbeitenden bieten entspannt einen besseren Service. Das Hotel hat heute mehr Gäste und macht mehr Umsatz und Gewinn. Bringt die Tätigkeit für Nutzer:innen und Kunden einen Mehrwert? Oder füttert die Arbeit nur Ordner und Verwaltung? Das ist ein gutes Maß, um mit dem Löschen zu beginnen. Dem Staat wird zu Recht vorgeworfen, dass es zu viel Bürokratie gibt. Doch Studien zeigen, dass die Unternehmensinternen Regel-Dickichte teilweise bis zu dreimal höher sind.

 

Viele verwechseln Vereinfachung mit Faulheit. Was entgegnest du denen, die sagen: „Einfach heißt, man macht weniger"?

Populistische Sätze wie „Arbeit als Unterbrechung von der Freizeit“, „Freizeitpark Deutschland“ und „Wohlstand ist mit der 4-Tage-Woche nicht haltbar" sind zynisch, weder faktenbasiert noch zukunftstauglich. Und sie haben mich so geärgert, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Reden wir über Arbeitszeit oder Leistung? Für gute Leistung müssen die Rahmenbedingungen passen. Arbeitgeber bestimmen die Statik der Unternehmenskultur. Gefüllt wird sie von allen Mitarbeitenden gemeinsam. Können alle ihre Bestleistung bringen auf dem Spielfeld? Wie in dem Beispiel der Steuerkanzlei. Sie schaffen in weniger Zeit fokussiert mehr. Die Arbeitszeit ist pro Woche um sechs Stunden kürzer. Doch die Arbeitsleistung ist höher als zuvor.

 

Hamburg@work hat in deinem Buch einen ehrlichen Einblick gegeben, wie Teamarbeit in einem Cluster mit fünf Frauen, elf Kindern, zwei Hunden und einem Chef funktioniert. Wie nimmst du diese Form der Zusammenarbeit wahr? Ist Hamburg@work für dich ein Beispiel dafür, wie moderne, flexible Teams heute gut aufgestellt sind?

Euer Beispiel begeistert mich auf mehreren Ebenen. Klare, transparente Strukturen und saubere Schnittstellen minimieren Störungen. Ein offener Umgang mit Experimenten ermöglicht schnelles Lernen und Weiterentwicklung.

Statt Mikromanagement wird Verantwortung verteilt und ermöglicht freie Leistungsentfaltung. Bei euch gibt es kein ‚Das-haben-wir-immer-schon-so-gemacht‘. Ihr könnt offen reden und sucht die beste Lösung. Geht es allen gut, wird produktiv zusammengearbeitet. Der Game-Changer in komplexen, herausfordernden Zeiten ist Vertrauen. Ihr lebt das. Warum wird in anderen Organisationen unproduktive Arbeit immer mehr, obwohl es Tools für gute Workflows gibt? Viele Führungskräfte vertrauen den Mitarbeitenden nicht, daher kommen immer mehr Prozesse und Mikromanagement hinzu. Diesen Ballast gibt es bei euch nicht.

 

Du sprichst viel über Verantwortung und Vertrauen. Wie schafft man eine Kultur, in der Hilfe einzufordern keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Teamgeist ist?

Im Microsoft Work Trend Index 2021 geben 79 Prozent der Führungskräfte an, dass es ihnen schwerfällt, in hybriden Arbeitsmodellen darauf zu vertrauen, dass ihre Mitarbeitenden produktiv sind. Diesen 79 Prozent bleibt nur Kontrolle. Nicht zu vertrauen schwächt die Leistung der Firma, weil das Regel-Dickicht wächst und demotiviert. Kann man machen, ist halt teuer. Vertrauen öffnet Freiräume, in denen Menschen Wertvolles leisten können. Führungskräfte machen so viel wie nötig an der Statik und so wenig wie möglich auf dem Spielfeld. Wer diesen Raum gibt, schenkt Vertrauen. Erst dann werden Mitarbeitende sich trauen, andere um Rat und Unterstützung zu bitten. Freie Bahn für eigene Entscheidungen erhöht die Zahl der besten Wege. Das Gegenteil, also mehr Kontrolle ist Aufwand, schränkt Handlungsspielräume ein und schreddert Motivation. Man bezahlt Fachkräfte, traut ihnen aber nichts zu. In der Folge – nicht ursprünglich – steigt die Fluktuation in der Firma, und der Chef schreit „Fachkräftemangel“. Wer Spielräume beschneidet und Menschen verheizt, hat zurecht einen Mangel an Fachkräften, die nicht für dieses Unternehmen arbeiten wollen.

 

Kommunikation ist ein entscheidender Hebel für Vereinfachung. Welche Prinzipien helfen Teams, Missverständnisse zu vermeiden und klar miteinander zu bleiben?

Missverständnisse entstehen, wenn ich spekuliere und Vorurteile wirken. Nicht zu raten, sondern zu fragen, ist zielführender. Dann werden keine voreiligen, falschen Schlüsse gezogen. Respekt lebt vom Zuhören. Die Person gegenüber bringt Erwartungen mit zur Arbeit. Wird mehr Freiraum oder konkrete Anleitung erwartet? Dialog oder Deep Work? Ideen-Ping-Pong mit Tempo oder Zeit zum Nachdenken? Prompten bei der Nutzung von KI-Tools kennt jeder. Auch in der Zusammenarbeit ist Prompten die Kunst, präzise und effektive Anfragen zu formulieren, um gewünschte Ergebnisse zu erzielen. Bei KI-Tools testen wir verschiedene Prompts und lernen, wie sie von der Maschine verstanden oder missverstanden werden. Prompten in der Zusammenarbeit mit Menschen braucht ebenso Versuche, Rückfragen, Erklären und Anpassen. Nicht raten, fragen. Eine hochbegabte Anwältin begann mit Top-Examen in einer Wirtschaftskanzlei. Für das Lesen und Korrigieren eines sehr anspruchsvollen Versicherungsvertrags brauchte sie viel weniger Zeit, als von ihrem Vorgesetzten geplant war. Statt sich darüber zu freuen, bremste der Chef die Leistung. Sie solle bitte nicht mehr so schnell arbeiten. Das wäre unfair den Kollegen gegenüber. Diese Erwartung kam völlig unerwartet. Vorher ist sie nicht kommuniziert worden. Nun kann die Anwältin ihr Tempo drosseln oder sich einen neuen Arbeitgeber suchen.

 

Im digitalen Alltag steigt die Komplexität rasant. Was rätst du Organisationen, um trotzdem handlungsfähig und menschlich zu bleiben?

Unsere Haut schmeißt täglich alte Hautzellen raus, dann wächst neue Haut nach. Alle vier Wochen hat sich die Haut komplett erneuert. Dieses Prinzip kann Vorbild für unsere Arbeit sein. Erst vereinfachen und löschen, bevor neue Arbeit hinzukommt. Regelmäßig Arbeit entmüllen für Freiraum, bevor wir überwuchert werden. Dann gewinnen wir Zeit, Energie und Fokus. Wird das Dickicht gerodet, können Fachkräfte arbeiten. Ansonsten kämpfen sich alle durch hausgemachte Probleme. Häufig verhindert die eigene Organisation wertvolle Leistungen. Sind Struktur und interne Regeln gelichtet, wird Wertvolles geleistet. Die städtische Müllabfuhr kommt wöchentlich. Wie oft kommt sie im Unternehmen? Arbeiten wir zu wenig und haben deshalb zu wenig Zeit? Oder haben wir zu viele veraltete Aufgaben und Zeitfresser? Es ist eine strategische Entscheidung, wöchentlich auszumisten.

 

Du forderst: Weniger arbeiten, mehr wirken. Was bedeutet das praktisch im Alltag für Führungskräfte und für Mitarbeitende?

Die Firma Zotter hat einen Friedhof eröffnet. Wird eine Schokoladensorte aussortiert, wird sie beerdigt. Fans dieser Sorte kommen zum Trauern. Die Beschwerden durch Kunden über aussortierte Sorten gehen messbar zurück.

Jede Firma kann intern Lösch-Listen aushängen. Nichts motiviert so sehr wie Bullshit-befreite, wirkungsvolle Arbeit. Echte Wertschöpfung braucht Menschen, die fokussiert und tiefgründig arbeiten. Jede Woche arbeiten wir vier bis fünf Tage, das ist viel Lebenszeit. Unternehmen können Spielräume eröffnen, damit die Fachkräfte gute Pässe und viele Tore schießen können. Würde nach jedem Pass ein Bericht geschrieben, würde kein Tor fallen.

Aus „geht nicht“ wird „geht NOCH nicht“. Geht nicht, ist die Schwelle zur Weiterentwicklung. Jeder Standard kann verändert werden. Du kannst jede Struktur, Maschine, Strategie, jeden Service und Prozess, jedes Produkt und Geschäftsmodell in zehn Minuten ändern. Wähle ein Thema, das du vereinfachen willst. Definiere sechs Elemente und Bestandteile, die das Thema im Kern ausmachen. Streiche drei der sechs Elemente, die lässt du weg. Die anderen drei Elemente werden gesteigert. Das Ergebnis ist eine neue Strategie, Idee oder Maschine. Wiederhole das neun Mal, und du hast 10 neue Möglichkeiten zur Wahl der Besten.

 

Viele Menschen sind gerade erschöpft von „New Work", ständigem Wandel und Digitalisierung. Wie kann Arbeit wieder leichter werden, oder sogar Freude machen?

Es gibt von allem zu viel, auch vom Wandel. Besonders wenn Change zusätzlich zu allem anderen Zu-viel kommt. Bei 100 Prozent Auslastung ist Wandel eine weitere Quelle der Überlastung. Der Geschäftsführer Florian Arndt gab den 45 Angestellten der Sons of Motion Pictures GmbH den Auftrag, sich mit KI-Tools zu beschäftigen, die für ihre Profession relevant sind. Bilder, Ton, Sprecher, Schnitt, Animationen, Drehbücher. Das hat er bewusst nicht ins tägliche Business gequetscht, sondern zwei Tage auf Umsatz verzichtet. Alle bekamen zwei volle Arbeitstage Zeit. Seit 2023 sind KI-Tools ein fester Bestandteil im Arbeitsalltag. Sie sind für Kunden noch kreativer, präziser, günstiger. Jede Woche gibt es intern zwei Stunden KI-Training für alle Mitarbeitenden. Entscheidend ist der Zeit-Faktor. Wer nimmt sich die Zeit? Wer trainiert sein Team wöchentlich zwei Stunden? Wer räumt auf, um KI-Tools auszuprobieren und im Arbeitsalltag zu integrieren?

 

Wenn jemand morgen mit „Arbeit einfach lassen" starten will was wäre dein erster konkreter Schritt?

Zeichne für jede deiner Tätigkeit einen Kreis, der im Größenverhältnis zur verwendeten Zeit steht. Überlege für jede Tätigkeit, welche Wirkung mit ihr erzielt wird. Ist sie wertvoll? Zielführend? Wird damit der Zweck der Firma vorangebracht? Bringt die Tätigkeit den Kunden einen Mehrwert? Bringt sie Umsatz oder Image? Zeichne in jeden Tätigkeits-Zeit-Kreis einen zweiten Kreis. Klein für eine geringe Wirkung und groß für großen Mehrwert, zufriedene Gäste und zahlende Kunden. Die Tätigkeit, die am meisten Zeit verbraucht und die geringste Wirkung für die Firma und die Kunden erzielt, steht nun auf der internen Lösch-Liste. Wer das nicht allein entscheiden kann, hat mit der Übersicht eine visuelle Grundlage, um im Team und mit Führungskräften über das Löschpotenzial zu sprechen. Ein Bild sagt mehr als 1.000 Worte. Tat-Zeit-Wirkungskreise zeigen, was zu viel Zeit frisst im Vergleich zum Output. Um regelmäßig die Mülltonne zu füllen, kannst du jeden Mittwoch 10 Minuten Tat-Zeit-Wirkungskreise zeichnen. Du sprichst im Team und Führungskräften darüber. Löschen wird normal.

In Firmen, die regelmäßig streichen und entmüllen, werden Vereinfachung und Fokussierung zur guten Gewohnheit. Sie sind produktive Vorreiter mit den Fragen: Brauchen wir das? Erfüllt es noch einen Zweck? Was passiert, wenn wir es einfach mal nicht tun? Was keinen Mehrwert bringt, fliegt raus. Prozesse werden radikal entstaubt, Ballast wird entlassen. Jeder Mensch kann für sich beginnen.

 

Wenn du drei Wünsche frei hättest für die Arbeitswelt der Zukunft, welche wären das?

Menschen ernst zu nehmen, wie sie sind. Auf der Basis ist Vertrauen möglich, um sie einfach mal arbeiten zu lassen – innerhalb klarer Spielregeln und Erwartungen. Die Fachkräfte wurden vom Unternehmen extra ausgewählt, also lasst sie Verantwortung übernehmen. Regelmäßige Müllabfuhr im Unternehmen. Wertlose Arbeit einfach sein lassen.

 

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